KISS-Syndrom: Was hinter dem Schiefhals bei Babys steckt
- Sascha Bade
- 1. Mai
- 5 Min. Lesezeit
Wenn ein Baby den Kopf nur zu einer Seite dreht, die Bauchlage meidet oder auffällig oft schreit, vermuten manche Therapeuten das sogenannte KISS-Syndrom als Ursache. Doch was verbirgt sich hinter diesem Begriff – und wie gut ist er wissenschaftlich belegt?

Inhaltsverzeichnis:
Die Geburt eines Kindes ist ein tiefgreifendes Ereignis. Das gilt auch für den Körper des Neugeborenen. Kommt es dabei zu Kompressionen oder Fehlstellungen im Bereich der oberen Halswirbelsäule, kann das Auswirkungen auf die Körperhaltung, das Verhalten und die Entwicklung des Säuglings haben. Genau hier setzt das Konzept des KISS-Syndroms an – einer kopfgelenkinduzierten Symmetrie-Störung.
Der Begriff stammt aus der manuellen Medizin und wurde maßgeblich durch den deutschen Orthopäden und Manualmediziner Dr. Heiner Biedermann geprägt. Laut dieser Hypothese liegt beim KISS-Syndrom eine funktionelle Blockierung oder Fehlstellung der oberen Kopfgelenke (meist Atlas und Axis) vor. Diese könne eine „Schieflage“ des gesamten Körpers verursachen. Laut Dr. Biedermann mit Folgen für die Motorik, das Nervensystem und sogar das Verhalten.
Welche Symptome treten beim KISS-Syndrom auf?
Folgende Anzeichen deuten auf eine mögliche Symmetriestörung im Bereich der Halswirbelsäule hin:
Eine bevorzugte Kopfhaltung zur Seite (Schiefhals)
Vermeidung der Bauchlage
Asymmetrien im Gesicht oder in der Bewegungsentwicklung
Schlafprobleme, vermehrtes Schreien („Schreibaby“)
Probleme beim Stillen, z. B. nur auf einer Brust
Eingeschränkte Kopfrotation oder Neigung
Verzögerte Entwicklung der Grobmotorik
Die Symptome treten nicht immer in gleicher Ausprägung auf – manchmal sind sie subtil, manchmal deutlich sichtbar.
Wie entsteht das KISS-Syndrom?
Die Ursachen für das KISS-Syndrom werden in der Fachwelt als vielschichtig und individuell unterschiedlich beschrieben. Besonders häufig im Zusammenhang genannt werden Geburtstraumata. Dabei handelt es sich um körperliche Belastungen, die während des Geburtsvorgangs auftreten können. Dazu zählen etwa die Anwendung von Geburtshelfern wie Zange oder Saugglocke, aber auch eine lang andauernde Pressphase, bei der starker Druck auf den empfindlichen Bereich der Halswirbelsäule wirken kann. Selbst ein Kaiserschnitt steht hierbei in der Diskussion. Es wird vermutet, dass dem Kind hierbei ein wichtiger Impuls fehlt – nämlich der „Reset-Reiz“, der beim Durchtritt durch den engen Geburtskanal normalerweise auf das Nervensystem wirkt und die Anpassung an die Außenwelt fördert.
Auch vorgeburtliche Faktoren wie eine ungünstige Lage des Kindes im Mutterleib – zum Beispiel eine Beckenendlage – können die Entstehung von Haltungsasymmetrien begünstigen. In solchen Fällen vermutet man, dass bestimmte Bewegungsmuster oder Gelenkstellungen im Uterus dauerhaft einseitig belastet werden. Darüber hinaus können Blockierungen oder muskuläre Verspannungen im Bereich der oberen Kopfgelenke die freie Beweglichkeit des Kopfes einschränken und so zu einer asymmetrischen Körperhaltung führen. Seltener liegen den Symptomen angeborene strukturelle Fehlbildungen zugrunde, etwa beim sogenannten Klippel-Feil-Syndrom – einer Entwicklungsstörung der Halswirbelsäule, bei der einzelne Wirbel verschmolzen sind.
Nicht immer steckt eine komplexe Gelenkproblematik hinter den Beschwerden. In vielen Fällen entsteht ein muskulärer Schiefhals (medizinisch: Torticollis) durch eine Verkürzung oder funktionelle Störung des Musculus sternocleidomastoideus – jenes langen, schräg verlaufenden Halsmuskels, der für das Drehen und Neigen des Kopfes zuständig ist. Besonders nach einem Geburtstrauma kann dieser Muskel in Mitleidenschaft gezogen werden, sei es durch Blutergüsse, Narbenbildung oder einseitige Beanspruchung. Die Folge: Das Baby hält den Kopf bevorzugt zu einer Seite, bewegt ihn ungern oder entwickelt eine asymmetrische Körperspannung – ein mögliches erstes Anzeichen für eine kopfgelenkinduzierte Symmetrie-Störung.
Ist das KISS-Syndrom wissenschaftlich anerkannt?
Hier scheiden sich die Geister. Während viele manuell arbeitende Therapeuten, wie etwa Osteopathen, Chiropraktiker oder Physiotherapeuten, von positiven Behandlungsergebnissen berichten, gilt das KISS-Syndrom aus Sicht der evidenzbasierten Medizin nicht als gesicherte Diagnose. Es ist nicht in der ICD (International Classification of Diseases) gelistet und wird in pädiatrischen Leitlinien nicht als eigenständige Erkrankung geführt.
Dennoch: Es gibt reale funktionelle Auffälligkeiten bei Säuglingen, die – unabhängig von der Begrifflichkeit – einer fachkundigen Abklärung und ggf. Behandlung bedürfen.
KISS-Syndrom - So diagnostizieren Osteopathen
In der osteopathischen Praxis steht zu Beginn eine ausführliche Anamnese: Wie verlief die Geburt? Gab es Auffälligkeiten in der frühen Entwicklung? Gibt es Hinweise auf strukturelle Fehlbildungen oder neurologische Auffälligkeiten?
Danach folgt eine körperliche Untersuchung (Palpation), bei der Spannungen in der Muskulatur, Beweglichkeit der Kopfgelenke sowie die Lage von Schädel- und Wirbelknochen beurteilt werden. Manche Osteopathen nutzen „Listening“-Techniken, also das feinfühlige Ertasten rhythmischer Spannungsmustert.
Ergänzend können pädiatrische Tests durchgeführt werden, etwa zur Überprüfung von Reflexen, Muskeltonus oder Bewegungsmustern. In unklaren Fällen können auch bildgebende Verfahren wie Ultraschall, Röntgen oder 3D-CT zur Abklärung von Fehlbildungen zum Einsatz kommen.
Therapie: Was kann man tun?
Bei einem festgestellten muskulären oder funktionellen Torticollis erfolgt meist eine manuelle Behandlung. Die Behandlung muss sanft, altersgerecht und ohne Zwang erfolgen. Viele Kinder profitieren bereits nach wenigen Sitzungen. Auch Begleitmaßnahmen wie das Fördern der Bauchlage, gezieltes Handling im Alltag und Stillberatung können hilfreich sein.
Was passiert, wenn das KISS-Syndrom nicht behandelt wird?
Wird ein muskulärer Schiefhals im Säuglingsalter nicht erkannt oder behandelt, kann das – je nach Ausprägung und Dauer – Folgen für die körperliche und motorische Entwicklung haben. Oft entwickeln sich mit der Zeit sichtbare Asymmetrien im Gesicht oder im Körperbau, etwa ein schräg verlaufender Hinterkopf oder einseitig ausgeprägte Muskelpartien. Auch die Grob- und Feinmotorik kann betroffen sein: Kinder greifen seltener mit einer Hand, drehen sich nur in eine Richtung oder zeigen eine verzögerte Entwicklung beim Sitzen, Krabbeln oder Gehen. Je länger die funktionelle Einschränkung bestehen bleibt, desto größer ist das Risiko, dass der kindliche Körper die Bewegungseinschränkung kompensiert – oft mit weiteren Fehlhaltungen.
In seltenen Fällen berichten Therapeutinnen und Therapeuten von einem Übergang in das sogenannte KIDD-Syndrom – eine Abkürzung für „kopfgelenkinduzierte Dysgnosie und Dyspraxie“. Damit gemeint sind neurofunktionelle Auffälligkeiten wie Konzentrationsstörungen, Lernschwierigkeiten, Bettnässen oder ein unruhiges Verhalten, die möglicherweise auf eine anhaltende Störung im Bereich der Kopfgelenke zurückzuführen sein könnten. Allerdings: Die wissenschaftliche Grundlage für diesen Zusammenhang ist bislang schwach. Es existieren keine belastbaren Studien, die einen kausalen Zusammenhang zwischen einem unbehandelten KISS-Syndrom und späteren Diagnosen wie ADHS oder Entwicklungsstörungen eindeutig belegen. Auch wenn die Beobachtungen in der therapeutischen Praxis ernst genommen werden sollten, ist bei solchen Langzeitprognosen also Zurückhaltung geboten. Jede kindliche Entwicklung ist individuell – und nicht jede Schieflage führt automatisch in eine Störung.
Fazit: Früh erkennen – differenziert handeln
Das KISS-Syndrom ist kein wissenschaftlich anerkannter Begriff, beschreibt aber reale funktionelle Auffälligkeiten, die in der klinischen Praxis häufig beobachtet werden. Eltern sollten hellhörig werden, wenn ihr Kind den Kopf nur einseitig hält, die Bauchlage meidet oder auffällig viel schreit.
Wichtig ist eine frühzeitige, interdisziplinäre Abklärung – idealerweise durch Kinderärzte, Osteopathen und Physiotherapeuten. In vielen Fällen lassen sich funktionelle Probleme mit sanften manuellen Techniken und gezielter Förderung gut beheben.
Gleichzeitig sollte man bei dramatisierenden Aussagen zur Prognose oder pauschalen Therapieversprechen vorsichtig sein. Denn was ein Baby braucht, ist keine Schublade, sondern ein individueller, liebevoller und fachlich fundierter Blick auf seine Entwicklung.