Tinnitus: Wie Osteopathie helfen kann
- Sascha Bade

- 10. März
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Mai

Inhaltsverzeichnis:
Wenn im Ohr ein ständiges Klingeln, Summen oder Pfeifen zu hören ist, kann das den Alltag erheblich beeinträchtigen. Tinnitus – also ein subjektives, von anderen nicht wahrnehmbares Geräusch – betrifft Millionen von Menschen allein in Deutschland. Die Ursachen dafür sind vielfältig und reichen von Stress und Kieferfehlstellungen bis hin zu Problemen in der Halswirbelsäule oder im Bereich der inneren Organe. Oftmals bleibt auch nach ärztlicher Abklärung unklar, woher der Tinnitus genau rührt.
In solchen Fällen kann ein Blick über den Tellerrand sinnvoll sein: Die Osteopathie untersucht den Menschen ganzheitlich und versucht mithilfe manueller Techniken Spannungen, Blockaden oder Funktionsstörungen aufzuspüren und zu lösen. Mit diesem Artikel möchte ich veranschaulichen, wie eine osteopathische Behandlung bei Tinnitus aussehen kann, welche möglichen Ursachen aus osteopathischer Sicht zugrunde liegen und was Betroffene selbst tun können, um mit dem unangenehmen Ohrgeräusch besser umzugehen.
Chronischer Tinnitus als Symptom, nicht als Krankheit
Ob plötzlich oder schleichend: Ohrgeräusche können auf unterschiedlichste Art und Weise in Erscheinung treten. Manche Menschen hören ein leises Summen, andere nehmen ein hochfrequentes Pfeifen oder Knacken wahr. In rund 70 Prozent der Fälle verschwindet das Geräusch innerhalb weniger Wochen von selbst. Bleibt es jedoch bestehen, spricht man von Tinnitus, der somit keineswegs eine eigenständige Krankheit ist, sondern ein Symptom mit zahlreichen möglichen Auslösern. Laut der Deutschen Tinnitus-Liga e.V. hatten bereits über 18,7 Millionen Deutsche Erfahrungen mit dem unangenehmen Ohrklingeln, und pro Jahr kommen rund 340.000 neue Fälle hinzu.
Während die klassische schulmedizinische Behandlung zum Beispiel mit durchblutungsfördernden Medikamenten oder Infusionen erfolgt, kann bei unklarer oder nicht behandelbarer Ursache die Osteopathie eine ergänzende Rolle spielen. Hier wird nicht nur das Ohr selbst betrachtet, sondern der gesamte Organismus.

Der Körperkompass
Gesundheitswissen aus der Osteopathie-Praxis
Bestell-Nr. 1582ISBN-13: 978-3-8434-1582-8
248 Seiten, 154 x 205 mm, broschiert, mit zahlreichen farbigen Abbildungen
Typische Ursachen für Tinnitus
Lärmschäden: Häufiges Hören lauter Musik, Arbeiten mit lauten Maschinen oder Schalltraumata (z.B. Explosionsgeräusche) können das Ohr nachhaltig schädigen.
Durchblutungsstörungen: Ist die Blutversorgung des Innenohrs beeinträchtigt, kann dies Geräusche verursachen.
HWS-Probleme: Eine verspannte oder blockierte Halswirbelsäule kann Auswirkungen auf die Nerven- und Gefäßversorgung des Kopfes haben.
Gebissfehlstellungen (CMD): Kiefergelenksprobleme und Muskelverspannungen können den Tinnitus triggern.
Stress: Oftmals vermuten Betroffene starken Stress als Ursache; die Wissenschaft ist sich hier jedoch nicht einig, ob Stress allein Tinnitus auslösen kann oder nur verstärkt.

Wann ist ein Besuch beim Osteopathen sinnvoll?
Grundsätzlich gilt: Treten Ohrgeräusche nur kurzzeitig auf und verschwinden sie innerhalb weniger Tage, kann man sich meist beruhigt zurücklehnen. Hält das Klingeln im Ohr jedoch an oder wird es sogar lauter, sollte zunächst ein HNO-Arzt aufgesucht werden. Dieser kann organische Ursachen wie eine Erkrankung des Mittel- oder Innenohrs, mögliche Lärmschäden oder Durchblutungsstörungen abklären. Schlagen die schulmedizinischen Maßnahmen anschließend nicht oder nur unzureichend an, kann ein Besuch beim Osteopathen eine sinnvolle Ergänzung sein.
Ganzheitliche Betrachtung in der Osteopathie
Die Osteopathie geht davon aus, dass der Körper aus mehreren funktionellen Einheiten besteht, die miteinander in Verbindung stehen: Muskeln, Knochen, Faszien, Organe und das Nervensystem bilden ein Netzwerk. Eine Störung in einem Bereich kann daher an ganz anderer Stelle Beschwerden verursachen. So kann beispielsweise eine Einschränkung im Bauchraum über das Zwerchfell und die Halsmuskulatur bis hin zum Ohr führen und dort ein Geräusch auslösen oder verstärken.
Anamnese, Untersuchung, Befund
Anamnese
Hier steht das ausführliche Gespräch im Mittelpunkt. Wann ist der Tinnitus aufgetreten? Gibt es Begleitbeschwerden wie Nacken- oder Kieferprobleme? Wie äußert sich das Ohrgeräusch genau? Liegen Unfälle oder Operationen in der Vergangenheit vor? Auch Stressfaktoren und Lebensgewohnheiten werden besprochen.
Körperliche Untersuchung
Inspektion: Beobachtung von Haltung, Gangbild und eventuellen Gleichgewichtsproblemen.
Bewegungstest: Überprüfen von Bewegungseinschränkungen in Halswirbelsäule und anderen Gelenken.
Palpation: Abtasten von Muskeln, Faszien und Organen, um Verspannungen oder Blockaden zu erkennen. Besonderes Augenmerk liegt bei Tinnitus auf Nacken-, Kiefer- und Kopfbereich.
Befundbesprechung
Im Anschluss erläutert der Osteopath seine Beobachtungen und stellt einen Behandlungsplan auf. Dabei wird erklärt, wie viele Sitzungen ungefähr erforderlich sein könnten und welche begleitenden Maßnahmen – zum Beispiel gezielte Übungen oder Entspannungstechniken – sinnvoll sind.

Beispiel aus der osteopathischen Praxis
Um zu veranschaulichen, wie osteopathisches Arbeiten bei Tinnitus aussehen kann, dient dieses Beispiel:
Beschwerdebild: Eine Patientin klagt seit drei Monaten über ein durchgehendes Pfeifen im linken Ohr. Zunächst war es nur gelegentlich wahrnehmbar, dann wurde es immer lauter und störte sie vor allem beim Einschlafen.
Vorbefunde: HNO-Arzt und Hausarzt haben organische Ursachen weitgehend ausgeschlossen. Hörtests waren unauffällig, ein MRT brachte keinen Befund.
Anamnese: In unserer Praxis wird sie eingehend befragt. Dabei berichtet sie, dass sie in letzter Zeit beruflich sehr viel Stress hatte und häufig am Schreibtisch sitzt. Außerdem leidet sie schon lange unter gelegentlichen Nackenschmerzen, die sie bisher nicht weiterbehandeln ließ.
Körperliche Untersuchung: Im Anschluss betrachtet der Osteopath die Körperhaltung. Dabei fällt auf, dass ihre Schultern hochgezogen sind und der Kopf minimal nach vorn gebeugt ist. In anschließenden Bewegungstests zeigt sich eine eingeschränkte Rotation der Halswirbelsäule. Ein Palpationstest am Kiefergelenk ergibt, dass bei maximaler Mundöffnung ein Knacken auftritt und der Unterkiefer nach links ausweicht. Auch im Bereich des Bauches spürt die Patientin Druckschmerz.
Behandlung: In der folgenden Behandlung beginnt man mit myofaszialen Techniken, um die Verspannungen im Nackenbereich zu lösen und die Faszien zu entspannen. Anschließend folgt eine craniosacrale Therapie, bei der sanfte Griffe an den Schädelknochen vorgenommen werden. Zusätzlich werden Blockaden im Kiefergelenk behandelt, um mögliche Fehlstellungen zu korrigieren. Im Bauchraum wird die Lage und Beweglichkeit der Organe (viszerale Manipulation) überprüft. Zudem werden behutsam Spannungen am Zwerchfell gelöst.
Zwar ist dieses Beispiel nicht verallgemeinerbar, zeigt aber, welchen Nutzen eine ganzheitliche Untersuchung und Behandlung haben kann – insbesondere dann, wenn schulmedizinisch keine eindeutige Ursache gefunden wurde.
Tipps zum Umgang mit Tinnitus
Stressabbau: Autogenes Training, Meditation oder Yoga können über das vegetative Nervensystem positiv auf Ohrgeräusche wirken.
Ablenkung: Musik oder Naturgeräusche können das Summen oder Pfeifen überdecken und helfen, die Wahrnehmung zu verschieben.
Bewegung: Moderate Bewegung – Spaziergänge, leichtes Cardiotraining oder Dehnübungen – regt die Durchblutung an und lockert verspannte Muskeln.
Gute Schlafhygiene: Achten Sie auf einen regelmäßigen Schlafrhythmus und eine entspannte Atmosphäre im Schlafzimmer.
Ergonomie am Arbeitsplatz: Eine gute Sitzhaltung und eventuell höhenverstellbare Tische sowie geeignete Stühle reduzieren Verspannungen.
FAQ: Häufig gestellte Fragen zum Thema Tinnitus:
Was ist Tinnitus eigentlich genau?
Tinnitus bezeichnet ein Geräusch im Ohr, das nur der Betroffene selbst hört. Es kann in Form von Summen, Pfeifen, Zischen oder Knacken auftreten und ist ein Symptom, keine eigenständige Krankheit.
Wie stellt man fest, ob ein Tinnitus chronisch ist?
Von einem chronischen Tinnitus spricht man, wenn das Geräusch länger als drei Monate anhält. Akut ist er in den ersten Tagen bis Wochen.
Kann Osteopathie immer helfen?
Nicht in jedem Fall. Osteopathie kann dann sinnvoll sein, wenn Verspannungen, Blockaden oder andere funktionelle Störungen vorliegen, die zum Tinnitus beitragen. Eine vorherige Abklärung durch den HNO-Arzt ist wichtig.
Ist Tinnitus heilbar?
Manche Tinnitus-Formen verschwinden von selbst, andere lassen sich durch die Beseitigung der Ursache lindern. Bleibt ein Restgeräusch, lernen viele Betroffene, gut damit umzugehen und die Wahrnehmung zu verändern.
Muss ich mit Tinnitus immer zum Arzt?
Wenn das Geräusch länger als ein paar Tage anhält oder sich verstärkt, sollten Sie unbedingt zum HNO-Arzt gehen, um organische Ursachen auszuschließen.
Wie viele osteopathische Behandlungen brauche ich?
Das variiert individuell. Je nach Ausprägung und Ursache können einige wenige Sitzungen ausreichen, manchmal sind aber auch mehr Termine notwendig.
Übernimmt die Krankenkasse die Kosten für Osteopathie bei Tinnitus?
Viele gesetzliche Krankenkassen erstatten einen Teil der Kosten für osteopathische Behandlungen, private Versicherungen oft noch mehr. Erkundigen Sie sich am besten direkt bei Ihrer Kasse.
Welche Rolle spielt Stress bei Tinnitus?
Stress kann Ohrgeräusche verstärken oder möglicherweise mit auslösen. Eine reine Stressreduktion behebt nicht immer den Tinnitus, trägt aber oft zur Linderung bei.
Kann eine Fehlstellung des Kiefers (CMD) Tinnitus auslösen?
Ja, Kiefer- und Kaumuskulatur stehen in engem Zusammenhang mit dem Ohr. Eine CMD kann Spannungen verursachen, die sich in Ohrgeräuschen äußern.
Was kann ich selbst tun, um das Ohrklingeln zu mindern?
Entspannungstechniken, gezielte Übungen (z. B. Dehnung für Nacken und Schulter), gute Schlafhygiene und eine ergonomische Sitzhaltung tragen oft dazu bei, Tinnitus-Symptome zu reduzieren.
Wissenschaftliche Evidenz und Studien
Obwohl es zahlreiche Erfahrungsberichte und Fallstudien gibt, die von Erfolgen osteopathischer Behandlungen bei Tinnitus berichten, ist die wissenschaftliche Datenlage noch nicht umfassend genug, um einen klaren kausalen Zusammenhang zu belegen. Dennoch deuten einige kleinere Studien auf positive Effekte hin, insbesondere wenn muskuläre Verspannungen oder Fehlstellungen (z. B. CMD, HWS-Probleme) als Auslöser vermutet werden:
Murdin L, Schilder AG (2014): In ihrer Systematic Review and Meta-analysis in BMJ Open untersuchten die Autoren verschiedene Therapieansätze bei Tinnitus. Osteopathie wurde dort als vielversprechendes, aber noch nicht ausreichend erforschtes Verfahren diskutiert.
Brüggemann P, Szczepek AJ et al. (2017): Diese Untersuchungsreihe in Ear and Hearing legt nahe, dass Tinnitus-Symptome häufig mit Stress und muskulären Fehlspannungen korrelieren. Eine ganzheitliche Therapie, darunter auch manuelle Verfahren, zeigt zum Teil Besserungen im subjektiven Empfinden der Patienten.
Quellen:
Deutsche Tinnitus-Liga e.V.: www.tinnitus-liga.de
Murdin L, Schilder AG. Therapies for Tinnitus: A Systematic Review and Meta-analysis. BMJ Open. 2014.
Brüggemann P, Szczepek AJ et al. Validation of Tinnitus Sensory Phenotypes: A repeated measures design. Ear Hear. 2017.
Bundesverband Osteopathie (BVO): Informationen zum Berufsbild und Behandlungsansatz der Osteopathie.



